Mitternachtsdornen

Leseprobe

Die Umgebung wirkte so trostlos und wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich das sich in mir ausbreitende Gefühl als Verzweiflung interpretieren.

Ich musste sie finden!

Der Gedanke setzte mir zu und nagte dermaßen stark an mir, dass ich für ein paar Sekunden keinen klaren Gedanken fassen konnte.

„Fuck!“ Auf einmal wusste ich, wo sie sich befand. An der Seite des Hauses war ein Verschlag, in dem früher Kohlen aufbewahrt wurden. Ich stürmte auf die zweiflügelige schräge Klappe zu, die vor unzähligen Jahren einen dunkelgrünen Anstrich erhalten hatte, der an den meisten Stellen bereits abgeplatzt war. Eine Kette wickelte sich um die beiden Griffe, gesichert mit einem Vorhängeschloss, das ich mit einem Tritt sprengte. Ich zog zuerst die rechte Seite der Klappe auf, dann die linke. Der Geruch nach Schimmel und nasser Erde war zumindest ein natürlicher. Die Kleine lag ganz hinten und rührte sich nicht, als ich in den Verschlag sprang.

Ich ging zu ihr und drehte sie sanft zu mir.

Sie war nackt, Blut klebte an ihren Schenkeln, bedeckte ihr Gesicht und ich hatte keine Ahnung warum, doch Tränen verschleierten mir auf einmal die Sicht. Dermaßen ungewohnt, dass mein Herzschlag sich grotesk beschleunigte. Ich hob sie so vorsichtig wie möglich auf die Arme und schluckte gegen den Kloß in meiner Kehle an.

Ich war zu spät gekommen!

Doch dann erfasste ich, dass ihr Brustkorb sich bewegte, sie darum kämpfte, einen weiteren Atemzug zu nehmen, dass ihr Herz nicht zu schlagen aufhörte. Sie schlug die Augen auf, sah mich kurz an, lallte ein paar Worte, die ich nicht verstand, ehe sie zurück in die Bewusstlosigkeit driftete. Ich trug sie ins Wohnzimmer, legte sie auf die Couch und griff nach der Decke, die gefaltet auf dem Sofa lag. Ich drapierte die Decke über Betty und starrte sie wie gefesselt an.

Normalerweise hätte ich nicht gezögert, sie von ihrem Leid zu erlösen. Sie von den Schrecken zu befreien, die sie erlebt hatte. Aber ich konnte es nicht. Es war nicht gerecht von mir, Bettys Schmerz nicht zu beenden, trotzdem zog ich mein Smartphone aus der Tasche und rief Nosferat an, der sich nach dem zweiten Klingeln meldete.

„Ich habe sie gefunden“, teilte ich ihm mit. „Ihr Zustand ist“, ich hatte Mühe, das Offensichtliche auszusprechen, „wirklich schlimm.“

Nosferat antwortete nicht, stattdessen sagte er: „Das ist Taran, sie haben Betty gefunden. Ich überlasse dir die Entscheidung, Kendrick.“

Mit diesen Worten erlöste er mich von der Verantwortung und legte Bettys Leben in Kendricks Hände.

„Taran!“ Kendrick ersparte mir einen Wortschwall und wartete darauf, dass ich ihm jedes Detail mitteilte, das er wissen musste.

„Ihr Zustand ist besorgniserregend. Die Meduris oder wer auch immer hat sie in einem unterirdischen Verschlag im Garten aufbewahrt oder vielmehr zum Sterben dorthin gelegt.“ Schonungslos beschrieb ich wie es um Betty stand. Wie dünn sie war, wie verletzt, wie dicht sie davorstand, ihre letzte Reise anzutreten.

Ihr Zustand zerriss mir das Herz.

„Besteht eine Chance, sie zurückzuholen?“ Hoffnung schwang um Morvens willen in seiner Stimme.

Ich zögerte erneut und ließ ein paar Sekunden verstreichen, bevor ich antwortete. „So verschwindend gering, dass es keine Chance darstellt.“

Furcht hatte die Angewohnheit sich stets aufs Neue zu erfinden, denn ich hatte eine derartige lähmende Furcht noch nie vor einer Erwiderung gespürt. Als ob sie meine Nerven mit Eis überzog, sodass ich mich nicht mehr rühren, nicht mehr atmen, nicht mehr denken konnte.

„Das reicht mir. Bringt sie auf die Insel. Wir müssen alles versuchen, um sie zu retten.“

Die Erleichterung schlug wie ein Hammer auf mich ein, denn Betty zu töten, hätte mir den Rest gegeben, daran hegte ich nicht den geringsten Zweifel.

„Du hast sie gefunden.“ Owens Stimme riss mich aus der Starre. Er schaute erst mich, dann ihr zerschundenes Gesicht an, schlussfolgerte, wie es um den Rest ihres Körpers stand, denn sein Blick wurde eiskalt. Ich erfasste den schockierten Ausdruck, mit dem er erst sie und anschließend mich bedachte. Allerdings konnte ich nicht einschätzen, ob ausschließlich Bettys kritischer Zustand ihn derart bestürzte oder er etwas in mir erspähte, was ihn alarmierte.

„Wir müssen sie schnellstmöglich ins Hauptquartier bringen“, blaffte ich ihn an, was er mit stoischer Gelassenheit ertrug. Man verzieh sich so einiges, wenn man gemeinsam so viel erlebt hatte wie wir.

„Ich fahre“, sagte Gabriel, der sich nicht dazu hinreißen ließ, mich wie Owen anzuglotzen. Er machte Anstalten, ihr über die Wange zu streicheln, hielt sich jedoch in letzter Sekunde zurück, da ich kurz davorstand, ihm an die Gurgel zu gehen, was ich einen Sekundenbruchteil später bemerkte als er.

Wortlos drehte er sich um und Minuten später saßen wir im SUV. Ich hielt Betty die ganze Zeit in den Armen, hoffend, dass sie erneut die Augen aufschlug, sodass die Bedenken wegen ihres mentalen und körperlichen Zustands mich nicht länger quälten.

Dass ich keinen Fehler beging.

Dass ich sie nicht folterte, indem ich sie rettete.

Wie immer gibt es den Roman als Hardcover, als Taschenbuch und als E-Book sowie Kindle Unlimited.

https://www.amazon.de/dp/B09ZHV5FPS

Der Prolog von Mitternachtsdornen überschneidet sich mit den Ereignissen in Mitternachtsspuren. Ab dem 1. Kapitel sind die Ereignisse nach Mitternachtserwachen angesiedelt.

Sowohl in Mitternachtserwachen als auch in Mitternachtsdornen trefft ihr auf Shea, die Diebin, die dem falschen Kerl die Geldbörse stiehlt. Hierzu wird es einen eigenen Roman geben, der den Titel Mitternachtsbeute haben wird. 

Ich wünsche euch viel Freude mit dem neuen Teil der Jäger der Mitternacht Reihe.

Linda Mignani

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Mitternachtsdornen

Ich bin der, dessen Antlitz du nicht in deinen letzten Sekunden sehen willst.

Ich bin der, den man schickt, wenn es knifflig wird.

Schon vor Jahrzehnten habe ich jegliche Wärme in meiner Seele verloren und begrüße die Kälte in mir, denn sie bewahrt mich vor dem Schmerz des Alleinseins.

Dann treffe ich auf Betty, die Emotionen in mir wachrüttelt, die ich nie mehr fühlen wollte. Wenn ich bei ihr bin, wiege ich mich in trügerischer Sicherheit, denn sie liegt seit dem schweren Angriff des Urchaids im Koma.

Doch dann geschieht das Unfassbare, sie wacht auf und mit ihrem Aufwachen erhebt sich auch etwas anderes, die finale Finsternis, die ihren Ursprung nicht auf der Erde hat. Sie will sich holen, worauf sie seit Ewigkeiten wartet. Um Betty zu retten, muss ich weitaus mehr aufgeben als meine fragwürdigen Prinzipien. Ich muss die Dunkelheit endgültig umarmen, damit Bettys Licht mich erreicht.

Teil 3 der Jäger der Mitternacht Reihe, Taran und Betty

Musik Shutterstock, Stock-Track ID: 423722, Gondolier von Good News Tunes